»Ich trage die Schulden
meiner Mutter mit Ehre«

»Das war ein unglaublicher Verlust«

Als Ebru ihre Mutter nicht erreichen kann, überkommt sie ein ungutes Gefühl. Nur wenig später wird ihre Sorge zur Gewissheit: Ihre Mutter ist tot. Mit 64 Jahren.  

»Ich bin total auf Überlebensmodus gegangen.
Das war mir ganz wichtig, dass ich alles unter Kontrolle hab.«
– Ebru

Wirklich Zeit zu trauern hat Ebru nicht. Schnell muss sie entscheiden: Nimmt sie das Erbe ihrer Mutter an? Oder lehnt sie es ab? Und entscheidet sich damit auch dagegen, nochmal in die Wohnung der Mutter zu treten, Dinge mitzunehmen, die für sie wichtig sind. Die Entscheidung fällt ihr nicht schwer:

Unerträglich die Vorstellung, dass nichts von dem übrig bleibt, was an das Leben ihrer Mutter erinnert. Ebru will nicht, dass sich Fremde um die Dinge ihrer Mutter kümmern:

Aber mit der Entscheidung, das Erbe anzunehmen, nimmt Ebru auch die Schulden ihrer Mutter in Kauf. Sie findet Inkassobriefe in der Wohnung, Gläubiger kommen auf sie zu und fordern sie auf, offene Rechnungen zu bezahlen. Gläubiger, so nennt man die, denen man noch Geld schuldet. Für Ebru keine Überraschung. Sie wusste immer, dass da etwas auf sie zukommen würde:

Ebru zahlt jede Rechnung, die kommt. »Kleckerbeträge« sagt sie, mal 200, mal 300 Euro. Sie weiß: “Mehr als 10.000 Euro wird das bestimmt nicht werden.” Es wird ihr schon nicht das Genick brechen, ist sie sich sicher. Dabei verdient Ebru nicht viel. Aber immerhin mehr, als ihre Eltern je hatten: 

»Ich weiß gar nicht, was man mit Geld macht. Alles, was man zurücklegt, ist etwas, womit man nicht rechnet.« 
- Ebru

Wie viele Menschen in Deutschland erben Schulden?

»Das ist nicht die Häufigkeit«, erklärt Ralf Bornemann. Er ist seit 15 Jahren Schuldnerberater in Berlin Mitte. Bei den meisten seiner Fälle gehe es um Konsumschulden oder um Energierechnungen. Doch auch er berät Menschen, die nach dem Tod eines Familienmitglieds sehr hohe Schulden erben könnten.

Ein Fall, der auch ihn persönlich traurig gemacht hat, waren die Schulden, die ein erwachsener Mann von seinem Vater erben sollte.   

Fünf, zehn Jahre hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Der Vater verließ die Mutter damals für eine andere Frau. Kontaktabbruch. Erst mit dem Tod seines Vaters erfuhr der Mann, dass er Schulden erben würde. Fast eine halbe Million Euro:

»Wenn ich sehe, dass eine gestandene Persönlichkeit zu mir kommt und in Tränen ausbricht, dann ist das schon emotional.«  
– Ralf Bornemann, Schuldnerberater

Bornemann rät seinem Klienten rechtzeitig, das Erbe auszuschlagen. Der Sohn muss nun nicht für die Schulden seines Vaters aufkommen. Das Erbe geht an den Staat. Fiskalerbschaft heißt das im Behördendeutsch. Aber die ist selten:

Die meisten Menschen sprechen
nicht über Tod und Geld

Weil es die Möglichkeit gibt, das Erbe auszuschlagen, muss in Deutschland niemand für die Schulden der Verwandten aufkommen. Aber: Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie das Erbe ausschlagen können. Andere schaffen es nicht in der vorgeschriebenen Zeit. Wieder andere sind zu traurig, zu krank oder denken erstmal an alles andere als Geld.

Ralf Bornemann ist der Meinung, dass viel zu selten über Geld und Tod gesprochen wird, obwohl es sinnvoll ist, solche Dinge noch zu Lebzeiten zu klären: »Das wird unter den Teppich gekehrt. Und wenn es dann soweit ist, kommt das schlimme Erwachen.«

Klar: In Familien, in denen eher Vermögen vererbt wird, wird auch mehr darüber gesprochen. Aber es ist unangenehm, über Geld zu sprechen, wenn man seinen eigenen Kindern nichts als Schulden vermacht.

Wer in Deutschland Schulden macht

Laut Schuldneratlas 2022 sind fast sechs Millionen Menschen in Deutschland überschuldet. Alleinerziehende Frauen und alleinlebende Männer sind besonders betroffen (Destatis).

Auffällig ist, dass die meisten Menschen, die bei Schuldnerberatungen Hilfe suchen, einen Hauptschulabschluss oder gar keinen Schulabschluss haben.

Im deutschlandweiten Vergleich haben die Städte Bremerhaven und Gelsenkirchen die höchste Schuldnerquote. In Bremen hat fast jede dritte Person eine Migrationsgeschichte, in Gelsenkirchen ist es fast jede:r Zweite. Somit könnte auch Migrationserfahrung bei Überschuldung eine Rolle spielen. Nicht selten leben Menschen erster und zweiter Generation in prekären Verhältnissen, finden nur schwer einen Job und sind von Armut bedroht (bpb).

»Wir sind in Armut aufgewachsen und
es gab immer Schulden früher und die haben ganz viel Stress bedeutet.« 
– Ebru

Auch für Ebru und ihre Eltern war es nie selbstverständlich, Geld zu haben. Als sogenannte "Gastarbeiter:innen" hätten sie keine Weiterbildung bekommen und bekamen schlecht bezahlte Jobs, erinnert sie sich:

Welche Chancen gibt es für die Arbeiterklasse, Geld anzusparen? Haben Menschen mit Migrationsgeschichte die Möglichkeit, ihren Kindern ein Vermögen zu hinterlassen?

Das Geld bleibt vor allem
bei den Reichen

2020 wurden mehr als 50 Milliarden Euro vererbt - allein bei steuerpflichtigen Fällen, fast doppelt so viel wie 2010. Doch das Erbe verteilt sich nicht auf alle Bürger:innen gleichmäßig:

Fast jede:r Sechste in Deutschland erbt nichts, oder nur Schulden (16 Prozent). Wenn Geld da ist, geht es in den meisten Fällen um bis zu 25 000 Euro (38 Prozent). Acht Prozent erben noch mehr: bis zu 75 000 Euro.

Markus M. Grabka, Foto: DIW

Markus M. Grabka, Foto: DIW

Wie viel wird vererbt?

»Es gibt sehr unterschiedliche Schätzungen darüber, wie viel jedes Jahr vererbt und verschenkt wird.
Da schwanken die Werte zwischen 150 und 400 Milliarden Euro.«
– Markus M. Grabka, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

An dieser großen Spannbreite merke man bereits, wie groß die Unsicherheit in den Daten ist, sagt Markus M. Grabka. Er ist Senior Researcher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und beschäftigt sich mit der Einkommens- und Vermögensverteilung.

Beim Thema Erben findet er vor allem die hohen Freibeträge problematisch. "Reiche Eltern können - zusammen genommen - alle zehn Jahre bis zu 800.000 Euro steuerfrei an jeweils eines ihrer Kinder verschenken oder vererben."

In der Politik wird deshalb diskutiert, eine Vermögenssteuer (wieder) einzuführen. Die SPD will das. Die Grünen auch. Die FDP allerdings wehrt sich dagegen. Grabka hält die Abgabe ohnehin für unzureichend. Es würden damit nur Symptome bekämpft, nicht aber die Ursache: die Konzentration des Vermögens auf einige Wenige.

»Im Grunde wird nur ganz oben die oberste Sahne abgeschöpft.«
– Markus M. Grabka

Grundlegend sei eine zielgerichtete Umverteilung, so dass auch Menschen aus prekären Verhältnissen eine Chance haben. Der Vorschlag des DIW: ein Grunderbe. Damit hätten mehr Menschen aus Arbeiterfamilien die Möglichkeit, zu studieren, zu gründen und damit auch sozial aufzusteigen. 

»Nehmt das Scheißgeld!«

Wie viel Ebru für die Schulden ihrer Mutter aus eigener Tasche gezahlt hat, kann sie nicht sagen. Bis heute kommen immer wieder offene Rechnungen, Briefe von Gläubigern. Irgendwann war ihr nur noch wichtig, dass ihre Mutter nach dem Tod in Ruhe gelassen wurde:

Wahrscheinlich, glaubt Ebru, hätte sie das Geld sowieso irgendwann für ihre Mutter ausgegeben. Wäre sie nicht gestorben, hätte Ebru ihr irgendwann eine bessere Wohnung besorgt, für ein gutes Leben im Alter gesorgt. Außerdem, weiß Ebru, hat ihre Mutter das Geld für ganz alltägliche Dinge gebraucht. Nichts, wofür man sich schämen müsste:


Trotzdem hätte Ebru mit dem Geld, das sie sich angespart hat, auch andere Dinge machen können: Sich zum Beispiel selbst ein Vermögen aufbauen können. Mit der finanziellen Verantwortung gibt sie auch Chancen ab.

Reiche Menschen vererben viel Geld, arme Menschen vererben nichts oder nur Schulden. Dadurch wird der soziale Status an die nächste Generation weitergegeben. Wie viel Geld die Eltern haben, ebnet noch immer den Weg, den die Nachkommen einschlagen werden.

Es gibt die Möglichkeit, das Erbe abzulehnen. Doch nicht immer ist es sinnvoll. Woran es fehlt, ist Aufklärung. 

Wichtig: Sich einen Überblick verschaffen.
Gibt es Vermögen oder mehr Schulden als Ersparnisse? Oder ist es mir Wert, Kredite abzubezahlen, weil mir die Dinge am Herzen liegen?

Ist das Erbe unübersichtlich oder gibt es keine Erben, kann eine:n Nachlassverwalter:in beantragt werden. Am besten ist es, das Erbe vom eigenen Vermögen zu trennen.

Falls sich Schulden erst später herausstellen und das Erbe stark verschuldet ist, ist die letzte Möglichkeit noch immer: das Nachlassinsolvenzverfahren.

Nicht alle können für die Schulden ihrer Eltern aufkommen

Ebru hat seit ein paar Jahren ein festes Einkommen, sodass sie es sich leisten kann, die Schulden ihrer Mutter zu begleichen. Aber sie weiß auch, dass das nicht der Normalfall ist:

»Viele strengen sich auch an
und kommen nicht so weit.
Das hat auch was mit Glück zu tun.« 
– Ebru

Auch, wenn es Ebru finanziell nicht in den Ruin getrieben hat. Die Schulden ihrer Mutter lassen ihr keine Ruhe:

»Es gibt eine Belastung in der Ungewissheit. Ich weiß nicht, was hier nochmal kommt,
was für Summen das am Ende des Tages sind.«
– Ebru

Drei Jahre haben Gläubiger nach dem Tod eines Menschen Zeit, die Schulden einzutreiben. Ebru ist auch stolz, sich um die »Legacy« ihrer Mutter kümmern zu können.

Ebru hat sich alles angelesen für den Umgang mit dem Erbe ihrer Mutter. Nun hilft sie ihrer Community, wo sie kann. Ruft für Nachbar:innen bei Behörden an, erklärt Bekannten, wie sie eine Beerdigung organisieren können, gibt Tipps, wie sie das mit dem Erbe klären können. 

Was für Ebru bleibt

Würde Ebru alles noch einmal genauso machen? Nicht allen Menschen würde sie raten, die gleiche Entscheidung zu treffen, sagt sie. Es käme immer darauf an, welche Ausmaße die Schulden angenommen haben und ob man sie tragen kann.

Ebru jedoch ist froh, die Sachen ihrer Mutter nicht dem Staat überlassen zu haben. Sie kann sich an den Erinnerungsstücken ihrer Mutter erfreuen. Eine Kiste voller Fotos aus der Vertragsarbeitszeit ihrer Mutter liegt ihr besonders am Herzen.

Ein Foto zeigt ihre Mutter zusammen mit anderen Frauen in der Fabrik, in der sie damals arbeitete. Ein Stück Geschichte. Ein Stück Leben. Bis heute.

Ebru möchte anonym bleiben.
Deshalb wurde ihr Name geändert.


Dieses Projekt ist im Rahmen der
electronic media school Babelsberg 2022 entstanden.
Änderungen vorgenommen
am 08.April 2023
Collage & Illustrationen: Linh Tran, freepik/ upklyak; macrovector; storyset